Künstler*innen in Berlin „Wir sind ein Durchlaufort“

Interview mit Andrea Wallgren: In den historischen Gerichtshöfen verbindet sie Kunst, Handwerk und den Kiez – und setzt sich als Vereinsvorsitzende für diesen kreativen Ort ein.

17. Dezember 2024
Innenaufnahme: Malerin Andrea Wallgren in ihrem Atelier in den Gerichtshöfen, im Hintergrund ein großformatiges Gemälde

Die Malerin Andrea Wallgren hat in den Gerichtshöfen einen Platz gefunden, der sie auf vielen Ebenen inspiriert. Er verbinde sie mit Künstler*innen und Handwerker*innen – aber auch mit dem Kiez ringsum. Als Vorsitzende des Vereins „Kunst in den Gerichtshöfen“ möchte sie diese als einen offenen Ort etablieren.

Wenn du die Gerichtshöfe malen würdest, was wäre auf dem Bild zu sehen? 

Ich würde kleine und große Gestalten mit total unterschiedlicher Ausstrahlung malen. Alle würden sich bewegen, aber garantiert nicht in die gleiche Richtung.

Wie kommt’s?

In den Gerichtshöfen arbeiten 70 Künstler*innen. Wir alle leben von Kunst, aber jede*r hat seine*ihre eigene Position. Es gibt Malerei, Performance, Installation, Fotografie, Druck, Radierung, Skulpturen und vieles mehr. Ich vergleiche das immer mit Co-Working-Spaces: Alle haben ihr eigenes Büro, nur heißt das bei uns Atelier.

Seid ihr eine Künstler*innen-Kommune?

Nein, wir sind Einzelkämpfer*innen. Künstler*in sein ist ein Beruf, in dem man viel alleine ist. Aber hier in den Gerichtshöfen sind wir nicht allein. Du kannst immer beim Nachbar-Atelier auf einen Kaffee vorbeigehen oder sagen: „Komm mal rüber und guck mal drauf. Was sagst du?“ Für mich sind die Gerichtshöfe ein sensationeller Ort. Ich mag diese geschäftige Arbeitsatmosphäre. 

In den vier Höfen mit acht Aufgängen werkeln aber nicht nur Künstler*innen. 

Genau. Die Gerichtshöfe wurden im 19. Jahrhundert als Industriegelände gegründet. Damals wurden hier unter anderem Glühstrümpfe für Berliner Gaslaternen hergestellt. In den 1980er Jahren standen dann in Berlin viele Gewerberäume leer und ab 1983 zogen nach und nach Künstler*innen ein. Aber einige Gewerke sind noch da, manche sogar in dritter Generation. Das ist eine einmalige Kombination, auf die wir sehr stolz sind. 

Die Mitmieter*innen wie die Schreinerei, Schlosserei oder metallverarbeitende Hebezeugtechnik sind sicher ziemlich laut. Braucht man als Künstler*in nicht die Stille?

Im Gegenteil, ich erlebe das als eine Bereicherung. In meinem Aufgang repariert ein Instrumentenbauer Geigen und Cellos, und wenn er die schönsten Konzerte spielt, öffne ich extra mein Fenster. Darunter ist eine Eisen- und Metallverarbeitung in dritter Generation. Das Zischen und Puffen der Maschinen stört mich gar nicht und die Mitarbeitenden löten mir auch mal einen Sockel. 

Die Gerichtshöfe sind zu einem riesigen Kunstquartier geworden mit lichtdurchfluteten Ateliers. In den Anfangsjahren muss das hier anders ausgesehen haben.

Ja, die Dachateliers zum Beispiel hatten anfangs keine Heizung. Die Miete muss damals sensationell günstig gewesen sein. Nach Wedding wollte ja niemand. Vor allem nicht in diese Ecke hier, direkt vor der Mauer. Im geeinten Berlin liegen die Gerichtshöfe plötzlich super zentral und sensationell gut mitten in der Innenstadt. In die Fabriketagen haben wir Wände eingezogen und so die hohe Anzahl an Einzelateliers geschaffen.

Viele Kunstquartiere werden weggentrifiziert. Aber die Gerichtshöfe gibt es seit 40 Jahren.

Dafür mussten wir in der Vergangenheit auch hart kämpfen. Heute sind wir der GESOBAU sehr dankbar, dass sie sich nach einer schwierigen Verhandlungsphase doch dafür entschieden hat, dass wir Künstler*innen und die Gewerke bleiben können. Die 70 hier arbeitenden Künstler*innen sind als Verein organisiert, der als solcher unsere Interessen gegenüber der GESOBAU vertritt. Wann immer ein Atelier frei wird, achten wir darauf, dass ein professioneller Künstler oder eine professionelle Künstlerin einzieht.

Die Ateliers sind sicherlich begehrt.

Und wie! Wir kriegen mindestens einmal pro Woche eine Anfrage nach dem Motto: „Ich muss aus meinem Atelier raus und suche dringend einen Raum.“ Für mich ist das ein Spiegelbild dafür, wie es um die Kunst in Berlin steht.

In Berlin herrscht Atelier-Notstand. Laut Bundesverband Bildender Künstlerinnen und Künstler suchen mehr als 60 Prozent der 10.000 Berliner Künstler*innen einen Arbeitsraum oder haben gerade einen verloren. Darunter leiden nicht nur die Künstler*innen.

Nein, vor allem auch Berlin selbst. Direkt nach dem Mauerfall war Berlin wahnsinnig attraktiv, eben weil es hier so viele Hinterhöfe gab, in denen sich plötzlich überraschende Welten auftaten. Doch wenn nun diese Kunstorte nach und nach an private Investoren gehen, wird Kunst an den Stadtrand gedrängt. Gerade junge Künstler und Künstlerinnen, die frisch von der Akademie kommen, können sich ein Atelier in der Innenstadt nicht mehr leisten und ziehen raus. Damit zieht aber auch die Kunstenergie einfach weg.

Welche Bedeutung haben die Gerichtshöfe für den Pankekiez?

Wir sind ein Durchlaufort. Anwohnende wissen, dass sie von der Wiesenstraße durch unsere Höfe auf die Gerichtstraße laufen können. Das meine ich im positiven Sinne. Dadurch entsteht ein offener Raum, der Kunst im Vorbeigehen in den Alltag integriert. Einmal im Jahr öffnen die Künstler*innen im Rahmen der „Open Studios“ für ein Wochenende ihre Ateliertüren. Für den Kiez und auch für Berlin sind wir ein Leuchtturm.

Andrea Wallgren wurde in Chile geboren und kam mit 22 Jahren nach Deutschland. Nach einem Kunststudium in Bonn zog sie als freie Malerin über Heidelberg und Cottbus nach Berlin. Seit 2006 malt sie in den Gerichtshöfen und liebt den „authentischen Wedding“. Andrea ist Vorsitzende des Vereins Kunst in den Gerichtshöfen. 


Interview und Text: Nadine Wojcik / Bilder: Christine Bayer


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