Gelebte Demokratie Starke Vorbilder

Wie prägen Menschen das Leben in ihrem Kiez? Wie fünf Berliner*innen durch ihr Engagement Barrieren überwinden und ihre Stadt verbessern.

25. Juni 2024
Illustration: Johanna Maierski von Colorama

Demokratie lebt durch die Menschen, die sie gestalten. Wir haben fünf Berliner*innen getroffen, die das Leben in ihrem Kiez und in ihrer Stadt ein Stückchen besser machen, die sich für Gerechtigkeit einsetzen und für Benachteiligte engagieren. Sie geben Menschen eine Stimme, die sonst zu wenig gehört werden. Dafür gehen sie manchmal selbst an ihre Grenzen.

Die folgenden Bilder zeigen nicht nur die Gesichter und Momente dieser Protagonist*innen, sondern auch künstlerische Interpretationen ihrer Geschichten durch talentierte Illustratorinnen. 

Sabine Werth – die Pionierin

31 Jahre ist es her, dass Sabine Werth die Berliner Tafel gründete. Damals war sie Mitglied einer Berliner Frauengruppe, die sich von City Harvest New York inspirieren ließ. Diese Organisation sammelte übrig gebliebenes Essen von Supermärkten und Empfängen ein, um es dann an Obdachlose zu verteilen. „Das haben wir für Berlin übernommen und damit die erste Tafel Deutschlands gegründet“, erzählt sie.

Routiniert liefert Sabine Werth die Zahlen, die die Erfolgsgeschichte ihres Sozialprojekts umreißen: 2.700 Ehrenamtliche helfen heute beim Einsammeln der Spenden, beim Sortieren und der Ausgabe von Brot, Konserven, Obst und Gemüse. 400 Einrichtungen werden von der Berliner Tafel beliefert, in denen 95.000 Menschen von den Nahrungsmitteln profitieren. 

Über die Initiative Laib & Seele unterstützt die Berliner Tafel zusammen mit Kirchen und dem rbb außerdem Menschen, die zwar einen eigenen Haushalt haben, aber mit ihrer geringen Rente, den Sozialleistungen oder einem niedrigen Lohn kaum über die Runden kommen. Deutschlandweit hat die Berliner Tafel inzwischen viele Nachahmer gefunden. 

In 975 Städten unterstützen die Tafeln etwa zwei Millionen Menschen. Am Anfang ihres Engagements holte Sabine Werth noch die meisten Spenden selbst ein. Heute ist sie vor allem das „Gesicht“ der Organisation. Etwa 40 Stunden die Woche lenkt sie die Geschicke der Berliner Tafel und repräsentiert sie nach außen. Um das Ehrenamt mit ihrer Selbstständigkeit, der Familienpflege, zu verbinden, hat die Trägerin des Bundesverdienstkreuzes 1. Klasse die Geschäftsräume auf den Großmarkt verlegt, dorthin, wo auch viele Spenden für ihre Hilfsorganisation anfallen.

„Mit unserer Arbeit als Berliner Tafel können wir die Armut nicht abschaffen, aber wir können ihr die Würdelosigkeit nehmen.“

Soziale Missstände hatte sie bereits als Kind vor Augen. Die ersten Jahre ihres Lebens lebte sie an der Potsdamer Straße Ecke Bülowbogen mit Blick auf den Straßenstrich. „Dann zogen wir ins bürgerliche Marienfelde, wo man mir in der Schule erstmal das Berlinern abgewöhnte“, sagt Sabine Werth, die bis heute meistens Hochdeutsch spricht. Inzwischen lebt die studierte Sozialarbeiterin wieder in Schöneberg. Ans Aufhören denkt die 67-Jährige nicht. Der Trubel um Arbeit und Ehrenamt tue ihr auch gesundheitlich gut. „Mit 90 gehe ich in Teilzeit.“

Innenaufnahme: Sabine Werth von der Berliner Tafel
Illustration: Sabine Werth von der Berliner Tafel, im Hintergrund Lebensmittel

Linda Wölfel lebt als Grafikerin und Illustratorin in Berlin, arbeitet für Zeitungen und Magazine, kleinere Grafikbüros und Verlage. Sie hat 20 Jahre in feministischen Bands gesungen, E-Gitarre gespielt und Songs geschrieben. Am liebsten isst sie täglich Kartoffeln mit Gemüse.

Jennifer Maslowski – die Kraftvolle

Wie bekomme ich einen Pflegegrad? Welche Leistungen und Hilfsmittel stehen mir zu? Es sind Fragen wie diese, die Jennifer Maslowski und ihre Mitstreiter*innen vom Sozialrat Deutschland in Videos auf YouTube oder TikTok, aber auch im sonntäglichen Livestream und in persönlichen Beratungen beantworten. Alle Ehrenamtlichen im Verein leben mit einer Behinderung, sichtbar oder nicht, und kennen die Auseinandersetzungen mit Krankenkassen, Ämtern und Versicherungen aus eigener Erfahrung. 

„Ich hatte erfolgreich einen Pflegegrad beantragt und mich dafür sehr tief in die Thematik eingearbeitet. Dieses Wissen wollte ich weitergeben.“

Innenaufnahme: Jennifer Maslowski vom Sozialrat Deutschland

Auf die Idee, den Verein zu gründen, kamen Jennifer Maslowski und ihr Partner Salomo Swoboda vor vier Jahren. „Damals hatte ich erfolgreich einen Pflegegrad beantragt und mich dafür sehr tief in die Thematik eingearbeitet. Dieses Wissen wollte ich weitergeben“, sagt die 34-Jährige. Sie leidet seit ihrer Kindheit an der fortschreitenden Muskelerkrankung Spinale Muskelatrophie und ist deshalb seit einigen Jahren auf einen Rollstuhl angewiesen.

In Berlin wohnt sie mit Freund und Hund in einer barrierefreien Wohnung. Dass die gebürtige Neuruppinerin in der Hauptstadt gelandet ist, war eher Zufall. „Ich hatte mich nach dem Abitur deutschlandweit auf eine Ausbildung als Fachangestellte für Bürokommunikation beworben und viele Absagen erhalten, unter anderem weil die Arbeitsstellen nicht barrierefrei waren“, erinnert sie sich. Schließlich bekam sie eine Zusage vom Bundeskanzleramt, wo sie bis heute arbeitet und sich in der Schwerbehindertenvertretung engagiert.

Nach dem Job stehen neben der Vereinsarbeit fast jeden Tag Therapien an, um die verbliebene Muskelkraft zu erhalten. Einmal im Jahr fährt Jennifer Maslowski dafür auf eine mehrwöchige Reha. Meistens ist sie in Begleitung unterwegs. Denn in Berlin begegnen ihr immer wieder Barrieren wie schwere Türen, Bordsteinkanten oder defekte Fahrstühle in der U- und S-Bahn. Doch davon lässt sich Jennifer Maslowski nicht entmutigen. Vor kurzem gelang ihr wieder ein großer Triumph: Mehr als drei Jahre führte sie vor Gericht einen Prozess gegen ihre Krankenkasse für einen elektrischen Rollstuhl – mit Erfolg. „Der Rollstuhl hat mein Leben verändert. Ich kann ihn mit meinem Körpergewicht lenken und damit sogar am Strand fahren“, schwärmt sie. „Seitdem bin ich viel mobiler.“

Kraft gibt Jennifer Maslowski, wenn sie andere mit ihrem Sozialrechtswissen zu ähnlichen Erfolgen verhilft, auch wenn sich diese Auseinandersetzungen manchmal wie der Kampf zwischen David und Goliath anfühlen. Vom Paritätischen Wohlfahrtsverband Berlin bekam sie dafür 2022 den PIA-Preis verliehen.

Illustration: Jennifer Maslowski vom Sozialrat Deutschland

Sandra Bayer ist freie Illustratorin in Berlin. Sie beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit sozialen Themen und Nachhaltigkeit. Ihre humorvolle und eigenwillige Bildwelt wird von fantastischen Wesen und einem diversen Kosmos an Menschen und Tieren bewohnt.

Dr. Svenja Kück – die Netzwerkerin

Wer das Märkische Viertel von oben betrachtet, sieht lauter Hochhäuser. Aber wer in der Siedlung unterwegs ist, entdeckt viel Grün, unzählige Schleichwege, spannende Architektur und tolle Menschen. Es sind Perspektivwechsel wie diese, die Dr. Svenja Kück interessieren. 

Die Migrationsforscherin leitet mit BENN im MV ein Senatsprogramm, das Begegnungen zwischen Menschen und Kulturen unterstützt. Die Abkürzung steht für „Berlin entwickelt neue Nachbarschaften“. Denn neben Sprachkenntnissen und einem Job sind sie für Menschen mit Fluchtgeschichte entscheidend, um in Deutschland wirklich anzukommen, sich zu integrieren. Besonders in Kiezen mit Flüchtlingsunterkünften ist BENN daher aktiv. Das Zusammenleben verschiedener Kulturen mitgestalten zu können, ist für Svenja Kück ein Traumjob, seit sie ihr Elternhaus im norddeutschen Künstlerdorf Worpswede in Richtung Paris verließ. Sie erwartete eine multikulturelle Metropole – ähnlich dem Märkischen Viertel in Berlin.

„Migration ist zunehmend der Normalfall statt die Ausnahme. Wir leben in einer Migrationsgesellschaft.“

Illustration: Dr. Svenja Kück von BENN im MV

Nach ihrem Studium der Fächer Kulturanthropologie und Französisch studierte sie in Osnabrück im Masterstudiengang Migrationsforschung und schrieb in Heidelberg ihre Doktorarbeit zum Heimatbegriff. „Ich kann nur erahnen, welchen Bruch es bedeutet, wenn man aus seinem Land fliehen muss“, sagt sie. „Zugleich ist Migration zunehmend der Normalfall statt die Ausnahme. Wir leben in einer Migrationsgesellschaft.“

Damit Menschen, die als Geflüchtete in Deutschland ankommen, Anschluss finden, unterstützt BENN zusammen mit anderen sozialen Trägern und der GESOBAU unter anderem die Organisation von Stadtteilfesten und Sprach- und Nachbarschaftscafés. „Wer erst einmal seine direkten Nachbarn kennenlernen möchte, kann auch ein Etagen-Essen organisieren, also eine lange Tafel, an der alle Mieter eines Stockwerks Platz nehmen und jeder bringt was zu essen mit“, schlägt Svenja Kück vor. „Bei uns können sich die Nachbarn dafür zum Beispiel Bierbänke ausleihen oder andere Unterstützung erhalten.“ Den Feierabend verbringt die Mutter eines Kindes oft in ihrem grünen Innenhof – eine kleine Oase mitten im Wedding.

Innenaufnahme: Dr. Svenja Kück von BENN im MV

Seit 2017 ist Rudina Bejtuli Künstlerin bei der Werkstatt für Theater und Kunst Thikwa in Berlin. Dort illustriert sie mit Eleganz, Witz und Charme starke Frauen aus Kunst, Kultur, Politik und Medien. Neben ihrer Arbeit als Schauspielerin und Performerin widmet sie sich auch dem Bühnen- und Kostümdesign.

Amal Abbass – die Rastlose

Als 2022 viele Menschen aus der Ukraine flüchteten, stellte Amal Abbass schnell fest: Wer mit einer dunklen Hautfarbe in Deutschland ankommt, hat es besonders schwer. „Unterschwelliger oder offener Rassismus begegnet den Betroffenen auf Ämtern, in Schulen oder Unterkünften für Geflüchtete“, sagt sie.

„Wer mit einer dunklen Hautfarbe in Deutschland ankommt, hat es besonders schwer.“

Aus diesem Grund engagiert sich ihr Verein Tubman Network auch für diese Menschen, stellt ihnen Anwält*innen zur Seite oder begleitet sie bei Behördengängen. Benannt ist der Verein nach der US-Krankenschwester Harriet Tubman, die im 19. Jahrhundert geflüchteten Sklaven half. Auch Amal Abbass setzt sich für Menschen mit Fluchterfahrung ein, wobei sie den Begriff sehr weit fasst. „Das kann auch eine Frau sein, die ihre Wohnung verlassen muss, weil sie von ihrem Partner geschlagen wird“, sagt die Trägerin des Berliner Frauenpreises 2023. Schon früh wurde Abbass selbst wegen ihrer dunklen Hautfarbe diskriminiert. Wenn die Aufführung des Märchens „Frau Holle“ in der Schule anstand, bekam sie automatisch die Rolle der „Pechmarie“. Das hat in ihr einen Kampfgeist geweckt und motiviert die gebürtige Dresdnerin. 

Sie möchte, dass schon in Kindergärten und Schulen sensibler mit negativen Rollenbildern umgegangen wird. Deswegen führt Amal Abbass viele Projekte für Kinder und Pädagog*innen durch, in denen sie kindgerecht von Sklaverei und Kolonialismus erzählt und positive Vorbilder wie Harriet Tubman einbindet. In einer Kita in Neukölln soll das bald Teil des pädagogischen Konzepts werden. Amal Abbass arbeitet daran momentan zusammen mit einem freien Träger. 

Eine Pause gönnt sich die Aktivistin selten. „Denn das bedeutet oft Stillstand bei meinen Klient*innen und dass es mit ihren Themen nicht weitergeht“, sagt sie. Dennoch empfindet Amal Abbass ihre Arbeit manchmal nur als Tropfen auf den heißen Stein auf dem Weg zu einer gerechteren Welt. Zum Weitermachen animieren sie die vielen kleinen Erfolge, die sie für Einzelne erreichen kann, zum Beispiel in puncto Aufenthaltsrecht. 

Wenn sie doch einmal Freizeit hat, verbringt sie sie mit ihren Kindern und guten Freund*innen. Oder sie besucht die Theaterstücke im Ballhaus Naunynstraße – wegen seiner guten Aufführungen zu afrodeutschen Themen.

Außenaufnahme: Amal Abbass vom Tubman Network
Illustration: Amal Abbass vom Tubman Network

Julia Fernández kam vor fast 15 Jahren aus Madrid nach Berlin und arbeitet fast so lange als Grafikerin bei der Agentur PEPERONI. Sie schafft es, jedem Thema eine bunte Facette zu geben, weswegen sie die illustrative Arbeit für Hallo Nachbar besonders liebt.

Johanna Maierski – die* Künstlerin*

Innenaufnahme: Johanna Maierski von Colorama

Schon während des Architektur-Studiums war Johanna Maierski klar, dass eine ganz normale Anstellung für sie* nicht das Richtige ist. Hierarchien machten ihr* bereits an der Uni zu schaffen, und so stellte sie* ziemlich schnell etwas Eigenes auf die Beine: Im Künstlerhaus ACUD in Mitte stellte Maierski einen gebraucht gekauften Risographen auf, eine Druckmaschine, mit der sich einfach und günstig professionelle Farbdrucke anfertigen lassen. 

Neben eigenen Projekten übernahm sie* Auftragsarbeiten von Agenturen oder Designfirmen, aber auch von anderen Künstler*innen und Autor*innen. „Ich muss mit meiner Arbeit nicht immer im Mittelpunkt stehen, sondern entwickle gerne mit anderen ihre Projekte weiter“, sagt die* 36-Jährige. „Vielleicht liegt es daran, dass ich drei Geschwister habe. Ich bin nie davon ausgegangen, dass ich Dinge alleine am besten kann.“ 

2015 gründete Johanna Maierski Colorama als Verlag und Druckwerkstatt im Wedding, die vielen Menschen offensteht. In der Vergangenheit führte sie* zusammen mit der Buchbinderin Lauria Joan zum Beispiel Projekte mit queeren Personen durch. Auch Menschen mit Behinderung, wenig Geld oder aus anderen Kulturen arbeiten in dem Projektraum und bringen ihre Weltsicht auf Papier – eine Gelegenheit, die sich ihnen sonst nur selten bietet.

„Ich muss mit meiner Arbeit nicht immer im Mittelpunkt stehen, sondern entwickle gerne mit anderen ihre Projekte weiter.“

Als 2024 die Basisfinanzierung durch den Senat wegfiel, musste Johanna Maierski das Angebot stark einschränken. „Unser offenes Werkstattprogramm, die sogenannte Membership, können wir nur noch einer sehr kleinen Gruppe anbieten“, bedauert sie*. Es gibt keine offenen Nachmittage mehr. Aber wer einen Comic, ein Magazin oder ein Buch drucken möchte, kann sich an das Colorama-Team wenden. 

In anderen Ländern, beobachtet Johanna Maierski, ist das Drucken als partizipativer Akt bereits weiter verbreitet als in Deutschland. Gerade ist sie* von einer Buchmesse in New York zurückgekehrt. Was ihr* dort auffällt: „Die Buch- und Verlagswelt ist solidarischer als hier. Es werden zum Beispiel Spenden gesammelt für Hilfsorganisationen, aber auch für Kolleg*innen, die sich in einer schwierigen Lage befinden.“ 

Lange Zeit hat sich Johanna Maierski in Richtung Ausland orientiert, spielte sogar mit dem Gedanken, die Heimat zu verlassen. Als das Reisen während der Corona-Pandemie nicht möglich war, veränderte sich ihr* Blick auf die Stadt. Jetzt erkennt die Verlegerin* wertschätzend an, was Berliner*innen aus Solidarität für Schwächere auf die Beine stellen. Zu ihren* Lieblingsorten gehören die Buchhandlung und der Aktionsraum Hopscotch Reading Room in der Kurfürstenstraße und der Tiergarten – „fast so schön wie der Central Park“, sagt sie*.

Da Johanna Maierski nicht als Frau betitelt werden möchte, haben wir uns für das Pronomen sie/ihr mit * entschieden.

Illustration: Johanna Maierski von Colorama

Juliane Filep zeichnet alles, was ihr vor den Stift kommt. Und sie mag Druck. Deshalb freut sie sich schon auf ihr nächstes Projekt: Riso lernen!


Text: Judith Jenner / Aufmacher: Juliane Filep


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