Hauptstadtentwicklung Alle im Blick
Unsere Titelstory zeigt, wie Berlin mit geschlechtergerechter Stadtplanung den öffentlichen Raum für alle sicherer macht.

Die geschlechtergerechte Stadtplanung in Berlin hat das Ziel, den öffentlichen Raum für alle sicher und zugänglich zu machen. Doch aktuell ist er oft ein Alpha-Raum: geplant für gesunde, starke, mutige Menschen. Wer dunkle Ecken, hohe Treppenabsätze und ständiges Tosen nicht mag, bleibt statistisch häufiger zu Hause. Wie kann sich das ändern?
Herausforderungen in Berlins öffentlichem Raum: Christin Noack über Stadtplanung und Barrieren
Wenn Christin Noack mit ihrem Kinderwagen eine große Kreuzung überquerte, schaffte sie es nur selten bei Grün ganz rüber. Auf der schmalen Verkehrsinsel in der Mitte angekommen, tosten schon wieder Autos nah an ihr vorbei. Dass der Verkehr fließt, hat in Berlin meist Vorrang vor dem Wunsch von Fußgänger*innen, ohne Unterbrechung die Straße zu kreuzen. In Nebenstraßen warteten andere Herausforderungen auf die damals junge Mutter: hohe Bordsteinkanten, umgestürzte E-Roller, holprige Gehwege.
„Dass die Gestaltung unserer Städte an den Bedürfnissen der Mehrheit der Menschen vorbeigeht, ist mir erst nach meiner Schwangerschaft so richtig klar geworden“, sagt Christin Noack heute. Vorher hatte sie die vielen Hindernisse nicht gesehen. Die Stadtplanerin lebt seit mehr als 20 Jahren in Berlin und möchte die Stadt gerechter gestalten. Noack betreut Projekte, die die Stadt lebenswerter machen sollen, von Spielplätzen über Schulen und Kitas bis hin zu ganzen Straßenzügen.
Gendergerechte Mobilität in Berlin: Unterschiede in der Fortbewegung von Frauen und Männern
Es ist mittlerweile wissenschaftlich gut dokumentiert, dass sich Frauen und Männer unterschiedlich durch die Stadt bewegen. Von allen Autofahrten werden statistisch zwei Drittel von Männern zurückgelegt. Die Studie „Mobilität in Deutschland“ vom Institut für angewandte Sozialwissenschaft aus dem Jahr 2023 belegt, dass Frauen häufiger zu Fuß, per Fahrrad oder mit den öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs sind. Männer nehmen häufiger das Auto, um damit auf direktem Weg von zu Hause zur Arbeit zu gelangen. Und die Geschlechter unterscheiden sich nicht nur in der Frage, wie sie sich fortbewegen, sondern auch warum: Laut Bundesfamilienministerium verwenden Frauen 44,3 Prozent mehr Zeit für unbezahlte Sorgearbeit als Männer. Dazu gehören neben der Kindererziehung und Hausarbeit auch die Pflege von Angehörigen oder das Ehrenamt. Dieser Unterschied wird als Gender-Care-Gap bezeichnet, der es bis heute wahrscheinlicher macht, dass eine Frau einen Kinderwagen oder einen Rollstuhl schiebt.
„Traditionelle Geschlechterrollen werden durch unsere Städte begünstigt und sogar gefestigt“, sagt Christin Noack. „Frauen sind vergleichsweise benachteiligt, insbesondere wenn es um die Sicherheit geht. Aber auch Bedürfnisse nach öffentlichen Toiletten oder Orten zum Wickeln oder Stillen werden zu wenig bedacht.“ Die gendergerechte Stadtplanung berücksichtigt diese Unterschiede. Dabei gilt: Nur weil es „gendergerecht“ heißt, profitieren nicht nur Frauen davon, sondern auch Menschen mit Behinderung oder Männer ohne Auto.
„Traditionelle Geschlechterrollen werden durch unsere Städte begünstigt und sogar gefestigt. Frauen sind vergleichsweise benachteiligt.“ - Christin Noack
Gendergerechte Stadtplanung: Wie Frauen und andere Gruppen von gerechter Urbanisierung profitieren
Damit sich mittelfristig etwas verändert, veranstaltete der Berliner Senat im November 2024 ein Symposium zur frauengerechten Stadtplanung mit dem Ziel, unterschiedliche Akteure aus Politik, Architektur und Stadtplanung besser zu vernetzen und die Bedürfnisse aller Menschen stärker in der Planung zu berücksichtigen. Auch auf Bundesebene soll das Thema stärker in städtebauliche Leitlinien einfließen. Beim Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung läuft zum Beispiel das Forschungsprojekt „Gendergerechte Stadtentwicklung: Potenziale für nachhaltige und vielfältige Städte“. Expert*innen verschaffen sich dabei einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand. Sie untersuchen mögliche Hürden und sogenannte Best-Practice-Beispiele, also Orte, wo eine gerechte Stadtplanung bereits viel bewirkt hat.
Best-Practice-Beispiele für gerechte Stadtgestaltung in Berlin
Ein solcher Ort ist der Letteplatz in Reinickendorf, der als Paradebeispiel für eine erfolgreiche Umsetzung von geschlechtergerechter Stadtplanung in Berlin gilt. Vor zwölf Jahren hat ihn die Landschaftsarchitektin Barbara Willecke grundlegend umgestaltet. „Es gab auf dem Platz immer wieder Probleme mit Kriminalität. Viele Frauen, Kinder und ältere Menschen mieden ihn deshalb“, sagt sie. Ein umfassender Beteiligungsprozess des Quartiersmanagements fand heraus, wie die Menschen die Fläche zwischen Lette- und Pankower Allee gern nutzen würden. Einige möchten ein Buch oder die Zeitung im Schatten der Bäume lesen, andere ein bisschen Sport treiben, mit den Kindern Ball spielen oder ihre Nachbar*innen treffen. Wieder andere verbringen vielleicht gar nicht viel Zeit auf dem Platz, wollen ihn aber von der Bushaltestelle kommend bei Dunkelheit sicher überqueren und wünschen sich dafür eine angemessene Beleuchtung ohne dunkle Ecken.
Daran orientierte sich Willecke: Der Ballspielplatz bekam einen neuen Belag. Neue Sportgeräte wie Trampoline, ein Streetballplatz, Balancierbalken, Reckstangen und eine Calisthenics-Anlage sprechen auch Mädchen und ältere Menschen an. Ein großes Podest um eine alte Platane dient zum Lesen und Picknicken im Schatten. Eltern haben von dort aus ihre Kinder auf dem Spielplatz im Blick. Selbst an einem kalten Januartag sehen die geschwungenen farbigen Liegen auf der Wiese in Richtung Mickestraße einladend aus.
Die Outdoor-Möbel sind ein Entwurf von Barbara Willecke. „Je mehr Leute aller Altersgruppen einen öffentlichen Ort nutzen, desto weniger Müll und Vandalismus gibt es“, sagt sie. Ein breiter Weg zwischen Schule und Platz ist abends durch helle Laternen beleuchtet. Hoch in den Bäumen gibt es wechselnde Kunstaktionen, momentan spenden illuminierte Lichtskulpturen in Form von Insekten zusätzliches Licht. Der Platz wurde mit dem Nationalen Preis für integrierte Stadtentwicklung und Baukultur 2012 ausgezeichnet.
Umsetzung von geschlechtergerechter Stadtplanung in Berlin: Erfolgreiche Projekte im Fokus
Auch die GESOBAU denkt bei ihren Wohnhäusern daran, möglichst viele Menschen verschiedener Generationen in ihren Innenhöfen zusammenzuführen: In den Beständen in Hellersdorf, in der Schillerhöhe und im Märkischen Viertel gibt es Fitnessanlagen für Mieter*innen jeden Alters, was nicht nur dem Körper, sondern auch dem Wohnklima guttut.
Wie ein ganzer Platz durch solche Anlagen verändert werden kann, lässt sich auf dem Maxplatz beobachten. Der nordöstliche Teil des Leopoldplatzes gilt als offizielles Best-Practice-Beispiel für moderne Stadtentwicklung des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung. Nur wenige Hundert Meter entfernt befindet sich der umtoste Verkehrsknotenpunkt an der Müllerstraße mit Markt, Bushaltestellen und U-Bahnhof.
Am Maxplatz geht es familiär, nachbarschaftlich zu. In den türkis und mintgrün eingefassten Hochbeeten, die von Bürger* innen bepflanzt werden, haben sich einige Kräuter aus dem letzten Sommer gehalten. „Wir haben die Menschen gefragt: Was würdet ihr draußen gerne machen? Dabei kam heraus, dass zum Beispiel auch ältere Menschen gerne schaukeln. Mit unserer Hollywoodschaukel werden wir dem gerecht“, erklärt Barbara Willecke.
Die benachbarten Sportanlagen, wie nebeneinanderstehende Tischtennisplatten und ein Basketballfeld, trennen den Ort optisch ab von dem geschäftigen Bereich gen Müllerstraße, der wegen seiner offenen Drogenszene oft in den Schlagzeilen ist. „Leider musste die öffentliche Toilette wieder abgebaut werden, weil sie von Abhängigen verunreinigt wurde“, bedauert die Landschaftsarchitektin. Nicht alle Probleme lassen sich durch eine gute Planung lösen.
Stadt der kurzen Wege: Wie 15 Minuten die Lebensqualität verbessern
In der Stadtplanung gibt es verschiedene Ansätze, um die Städte lebenswerter zu machen. Einer davon ist die Idee der 15-Minuten-Stadt. Gemeint ist, dass Arbeitsplatz, Schule, Kindergarten, Supermarkt oder Ärztehaus durch kurze Wege von zu Hause aus erreichbar sind. Der Vorteil: Das Auto kann stehen bleiben, es gibt weniger Verkehr und weniger Luftverschmutzung. Die Menschen sparen Zeit. Besonders Frauen, die statistisch gesehen im Vergleich zu Männern mehr Stationen auf ihren täglichen Wegen ansteuern, um beispielsweise nach der Arbeit die Kinder abzuholen, einzukaufen oder zum Arzt zu gehen, würden kurze Entfernungen helfen.
Paris strebt dieses Ideal an mit besseren Fahrradverbindungen und Sperrungen für Autos, zum Beispiel entlang der Seine. Kritiker*innen bemängeln, dass es vor allem in Außenbezirken unrealistisch ist, einen Arbeitsplatz in unmittelbarer Nachbarschaft zu finden. Sie sehen auch einen möglichen Rückzug in den eigenen Kiez als problematisch an, weil sich die Menschen nicht mehr mischen und mit anderen Lebensrealitäten auseinandersetzen würden.
Modernisierung des Märkischen Viertels: Wie Kooperationen den öffentlichen Raum sicherer machen
Einen anderen Ansatz verfolgen Wohnungsbaugenossenschaften, um ihre Wohnanlagen heute so sicher wie möglich zu planen. Als die GESOBAU von 2008 bis 2015 im Märkischen Viertel 13.500 Wohnungen energetisch und baulich modernisieren ließ, holte sie sich Hilfe von ungewöhnlicher Stelle: Das Landeskriminalamt (LKA) beschäftigt in der Abteilung Prävention auch Stadtplaner*innen und Sozialwissenschaftler*innen. Sie beraten, wie der öffentliche Raum gestaltet sein muss, damit Straftaten und Verwahrlosung am besten gar nicht erst passieren.
„Die Unterstützung des LKA damals war wirklich hilfreich und auch wegweisend für andere Projekte“, sagt Christa Beck, Architektin und Teamleiterin im Bereich Technik bei der GESOBAU. „Unter anderem haben wir innen Spiegel installiert, die es in den Vorräumen ermöglichen, um die Ecke zu schauen. So sehe ich beispielsweise, wenn ich das Haus betrete, wer aus dem Aufzug kommt, und umgekehrt.“ Das erweitert das Blickfeld und erhöht das Gefühl von Souveränität.
Briefkästen hat die GESOBAU nach innen in einen geschützten Bereich verlagert, sodass sie nicht mehr direkt von außen zugänglich sind. Für Rollstühle gibt es teilweise abschließbare Abstellräume mit Lademöglichkeit. Schwellen wurden reduziert und die Durchgänge so erweitert, dass die meisten Häuser nun barrierearm zugänglich sind.
Für manche Maßnahmen arbeitet die GESOBAU auch mit ihren Partner*innen wie beispielsweise dem Grünflächenamt eng zusammen. Im Märkischen Viertel ließ sie unter anderem die Hecken von 1,80 auf 1,40 Meter herunterschneiden, um den Mieter*innen einen Rundumblick zu ermöglichen. Bänke und andere Sitzgelegenheiten lassen wieder mehr Menschen bei schönem Wetter draußen sitzen. Das verstärkt wiederum die soziale Kontrolle. Die Parkplätze sind inzwischen exklusiv Mieter*innen vorbehalten – auch das gibt vielen ein sicheres Gefühl.
Es werde Licht: Beleuchtung und Sichtbarkeit als Schlüsselfaktoren
Ein weiterer Tipp des LKA und zugleich ein wichtiger Aspekt der geschlechtergerechten Stadtplanung in Berlin: mehr Beleuchtung. Viele Gebäude im Märkischen Viertel stehen auf sogenannten Elefantenfüßen – massiven Betonstützen mit engen, dunklen Durchgängen. Zur Bauzeit sollten sie nicht nur Stabilität gewährleisten, sondern auch architektonische Kraft demonstrieren. Viele Mieter*innen fühlten sich darin unsicher, weil sie nicht sehen konnten, ob um die Ecke jemand wartete. „Wo es ging, haben wir diese Durchgänge geschlossen und sonst mit hellem Licht und Spiegeln gearbeitet“, sagt Christa Beck.
Bei Modernisierungen und Bestandserweiterungen wie einem Senior*innenhaus mit etwa 150 Wohnungen, das sie momentan im Märkischen Viertel baut, denkt die Architektin Sicherheitsaspekte gleich mit. Für das Märkische Viertel ist der Siebengeschosser ein vergleichsweise kleines Projekt. Ein heller, übersichtlicher Eingangsbereich ohne Stolperfallen ist ebenso selbstverständlich wie die Schaffung barrierearmer Fahrstühle im Rahmen der Bestandsmodernisierung. So können sich die künftigen Bewohner*innen sicher fühlen.
„Je mehr Leute einen öffentlichen Ort nutzen, desto weniger Müll und Vandalismus gibt es.“ - Barbara Willecke
Für einen noch tieferen Einblick in die geschlechtergerechte Stadtplanung Berlins und ihre Umsetzung, werfen Sie einen Blick auf unsere exklusive Bildergalerie. Hier erhalten Sie spannende Einblicke in die Entwicklung des Berliner Stadtbildes.
Text: Judith Jenner / Bilder: Sonja Mueller