Künstlerateliers in den Gerichtshöfen Ich habe einen Raum
Kunst in den Gerichtshöfen: 70 Ateliers voller Kreativität im Wedding. Entdecken Sie Künstler*innen und ihre inspirierenden Geschichten!
Das Kunstquartier in den Gerichtshöfen der GESOBAU ist mit etwa 70 Ateliers eines der größten in Deutschland. Gebaut 1912 als „Industriestätte Nordhof“ mit großen Fenstern und glasierten Ziegeln, ist der 9.000 Quadratmeter große Fabrikkomplex seit mehr als 40 Jahren eine kreative Oase im Wedding. Wir haben die dort ansässige Künstlerin Christine Bayer auf Entdeckungsreise geschickt, um in einige Studios und Werkstätten zu gucken – und uns ihre benachbarten Künstler*innen vorzustellen.
Im Atelier bei Silke Bartsch
Wer malt hier? Silke Bartsch. Geboren in Osnabrück, seit 1996 in Berlin.
Was ist dein häufigstes Motiv? Das gibt es so nicht. Ich habe mal eine Serie von Balkonaufsichten gemacht, später Datschen in Brandenburg gemalt. Es geht also um Sachen, die aus dem städtischen Raum kommen und im weitesten Sinne mit Architektur zusammenhängen.
Wenn mal kein Pinsel zur Hand ist? Male ich mit allem Möglichen, mit Küchenschwämmen, Verpackungsmaterial oder Noppenfolie.
Dein Atelier ist … wie ein niedriges Turmzimmer. Es ist so quadratisch wie ein Turmzimmer und fühlt sich an, als ob es nicht weiter hochginge. Es ist sehr hell und ich fühle mich wie in einem Turm.
Die Künstler*innen der Gerichtshöfe sind für den Kiez … immer bedeutsamer geworden. Wir gehören hier dazu. Wenn Menschen die Höfe durchqueren, sind wir als Künstler* innen greifbarer geworden.
Wenn es nach Silke Bartsch gegangen wäre, hätte sie ihr erstes Atelier schon als Kind bezogen. „Ich bin jeden Tag auf dem Nachhauseweg an einem Atelier vorbeigekommen. Ich habe die Künstlerin beobachtet und mir war sofort klar: Genau das möchte ich machen.“ Doch die Eltern wollten die Waschküche nicht hergeben.
Silke macht mühsame Umwege bis zu ihrem Traum: eine Ausbildung zur Krankenpflegerin, dann Studium der Visuellen Kommunikation in Düsseldorf, wo sie in den 1990er Jahren in die lebendige Kunstszene rund um Markus Lüpertz und Gerhard Richter eintaucht.
Mit der Entscheidung für Berlin 1996 kommt sie dann in ihre eigene künstlerische Kraft. Silke Bartsch mietet ein Atelier in Alt-Stralau. Als das Gebäude Einfamilienhäusern weichen muss, bezieht sie einen Gewerbehof im Prenzlauer Berg. Und als auch dieser für einen Bio-Supermarkt herhalten muss, findet Silke die Gerichtshöfe. Dass ihre Bilder so farbintensiv sind, ist kein Zufall: „Immer, wenn bei uns Jahrmarkt war, bin ich als Kind so oft wie möglich hin. Nicht wegen der Fahrgeschäfte, sondern wegen der Farben. Davon war ich total fasziniert.“
Im Atelier bei Christine Bayer
Wer malt und fotografiert hier? Christine Bayer. Geboren in Stuttgart, seit 2019 fest in Berlin und Los Angeles.
Die Gerichtshöfe sind ... ein Ort der Freiheit. Ich komme seit so vielen Jahren hierher und verspüre immer eine Art guter Energie und Schwingung.
Liebste Alltagskunst: Neben dem Eingang zu den Gerichtshöfen hat jemand „Arbeitslose Kunst“ an die Wand gesprüht. Ist das jetzt Kunst – oder Schmiererei? Ich mag es, so kleine Sachen im Alltag zu entdecken.
Das Thema ist mir wichtig: Hoffnung. Dazu habe ich auch mal ein interaktives Kunstprojekt gemacht, bei dem ich Menschen während unserer jährlichen „Open Studios“ eingeladen hatte, auf einer Schreibmaschine aufzuschreiben, was Hoffnung für sie bedeutet.
Schönster Platz im Pankekiez: Ich sitze gerne am Nettelbeckplatz draußen auf den gelben Stühlen vom Café Oeuf. Die Atmosphäre ist nett, international und durchmischt. Das erinnert mich ein bisschen an L. A.
„Dieser Raum hier hat alles verändert.“ Durch die Gerichtshöfe hat Christine Bayer zum Kunstmachen zurückgefunden. Die gelernte Grafikdesignerin pendelt seit Jahren als Kreativdirektorin zwischen Berlin und Los Angeles. Das Atelier hat sie quasi von ihrer Mutter übernommen, die hier seit rund 20 Jahren malt – und mit ihm veränderte sich auch Christines Kreativität.
„Am Anfang stand ich vor der leeren Leinwand und war total gehemmt. Also habe ich erst einmal nur einen Zettel danebengehängt: The fear of the white canvas.“ Die leere Leinwand mit dem Zettel „Die Angst vor der weißen Leinwand“ ist immer noch da. Aber mittlerweile hängen vor allem auch großformatige Bilder und Collagen in kräftigen Farben an den meterhohen Wänden.
Für Christine Bayer ein Neustart als Künstlerin: „Es war sehr schwierig, mich von meiner durchstrukturierten Arbeit als Grafikdesignerin freizumachen und einmal nicht zu wissen, was am Ende rauskommt.“ Diese befreiende Transformation teilt Christine Bayer nun auch manchmal mit anderen. In Rahmen von Workshops lädt sie Menschen in ihr Atelier ein, ihre Gefühle mit Farben auf große Papierrollen zu bringen. „Du musst dich anders bewegen, wenn du in so einer großen Dimension malst. Zu erleben, wie das auch für andere befreiend sein kann, ist total spannend.“
Im Atelier bei Eva Sörensen
Wer schmiedet hier? Eva Sörensen. Bei Hamburg geboren, seit 1997 in Berlin.
Wichtigstes Werkzeug? Der Ziselier-Hammer meiner Mutter. Er liegt so gut in der Hand.
Das schmiede ich immer wieder gern: Meine Klassiker sind drei verschiedene Ringe, die ich gieße, emailliere und glattschleife.
Die liebsten Orte im Kiez: Die anderen Ateliers in den Gerichtshöfen. Es ist inspirierend, welche Farbgebung und Materialien andere Künstler*innen verwenden.
Die Gerichtshöfe sind für den Kiez … lebenswichtig. Derzeit werden die öffentlichen Gelder für Kunst und Kultur stark gestrichen. Aber Kunst gehört zum Leben und in jeden Kiez.
„Ich schmeiße hin!“ Die junge Eva war während ihrer Ausbildungszeit total frustriert. Sie wollte eigentlich Silberschmiedin werden und mit dem Hammer Gefäße schlagen. Doch einer jungen Frau traute man nicht zu, kräftig genug zu sein. Es reichte nur für eine Ausbildung beim Goldschmied, bei dem sie Bernsteinschmuck am Fließband herstellen musste. Sie war frustriert.
„Meine Mutter hat gespürt, dass ich mehr Platz zum Experimentieren brauche.“ Die gelernte Emailleurin hatte einen eigenen Brennofen und zeigte der unglücklichen Tochter ihr Handwerk. „Endlich konnte ich frei entwerfen und gestalten.“ Nach ihrer Ausbildung studierte die Goldschmiedin deswegen Produktdesign mit Schwerpunkt Metall in Hildesheim. In der Studierendenwerkstatt stand ein verwaister Emaille-Brennofen. Eva war die einzige Studentin, die mit dem als altmodisch geltenden Handwerk umzugehen wusste.
In den Gerichtshöfen kombiniert sie heute präzise Silberschmiedekunst mit hochwertiger Emaille-Technik, ein seltenes Alleinstellungsmerkmal. „So kam alles zu mir – auch der 60 Jahre alte Brennofen meiner Mutter.“ Das Erbstück hat einen Ehrenplatz in ihrem Atelier.
Im Atelier bei Andreas P. Wolf
Wer malt hier? Andreas Wolf. Geboren in Heidelberg, seit 2013 in Berlin.
Was malst du? Ich arbeite sehr lange an den großformatigen Bildern. Zum Teil mit 15 Schichten drunter. Ich arbeite zwar immer an bis zu fünf Bildern gleichzeitig. Wirtschaftlich ist das trotzdem nicht.
Wie entstehen deine Bilder? Ich fange einfach an, zu malen. Und dann sagt mir das Bild, was zu tun ist. Es ist eine Art Dialog mit mir selbst, der da entsteht. Das Denken funktioniert beim Malen anders.
Inspirierender Ort im Kiez: Das Schwimmbad im Humboldthain. Ich gehe nicht nur zum Schwimmen hin, sondern auch zum Leute- und Kunstgucken. Dort gibt es auch einen Projektraum, in dem Kunst ausgestellt wird.
Nerviger Moment im Kiez: Wenn mir in einem Café am Nettelbeckplatz mit großen Augen erzählt wird, dass ich hier wirklich echten Filterkaffee kriege für 6 Euro pro Tasse.
„Einfach völliger Wahnsinn“, schießt es Andreas Wolf durch den Kopf, als sich die 170-Quadratmeter-Fabriketage im 4. Stock, Aufgang 3, vor ihm eröffnet. Die hohen Decken, die großen Fensterfronten, die perfekten Lichtverhältnisse. „Ich habe mich sofort in den Raum verliebt.“ Gerade erst war er aufgrund von Sanierung aus seinem viel zu kleinen und dunklen Atelier in Pankow vertrieben worden. Und nun das: ein Traum-Atelier. Nur viel zu groß für einen Künstler allein.
Andreas Wolf hängt sich sofort ans Handy. „In nur einer Stunde nach Besichtigung hatte ich vier Mitmieter*innen gefunden, die sich die Etage mit mir teilen wollten.“ Ein Atelier in den Gerichtshöfen ist purer Goldstaub. „Die Mieten in Berlin sind so hoch, und es fehlen geschätzte 4.000 Ateliers. Eines zu finden – und bezahlen zu können –, ist fast unmöglich geworden.“
Heute hat jede*r Künstler*in in der 4. Etage – Malerinnen und Maler, eine Fotografin, ein Collagen- und Installationskünstler – einen eigenen Raum, Wände wurden eingezogen. Jede*r malt und schafft für sich allein. „Aber die Chemie passt, wir sind eine richtige Künstler*innen-WG: Wir vertrauen und schätzen uns. Ich höre sehr viel Musik beim Malen, die anderen mögen das zum Glück.“
Im Atelier bei Susi Gelb
Wer experimentiert hier? Susi Gelb. Geboren in Bad Tölz, seit 2019 in Berlin.
Wie siehst du dich als Künstlerin? Wie eine Gärtnerin, ich arbeite gerne mit Material, das ich nicht vollständig kontrollieren kann. Ich benutze verschiedenste Materialien, unter anderem auch Künstliche Intelligenz, und erzeuge Bilder aus Text.
Was bedeuten dir selbst deine Skulpturen? Für mich sind alle Dinge belebt. Ich personifiziere auch meine Kunstwerke. Alles, was ich herstelle, hat eine Existenz. Es ist eine Art zu denken, die die meisten Leute nach der Kindheit verlieren.
Liebste Arbeitszeit? Twilight. Wenn es morgens hell wird oder abends dunkel. Die Grenze zwischen den Zuständen, zwischen Tag und Nacht.
Die Gerichtshöfe sind … ein Kreativquartier, ein ganz dichter Ort, an dem man spürt, dass hier 70 Ateliers sind. Und man spürt die Qualität der alten Bausubstanz, die Fliesen an den Außenwänden und die alten Fenster. Ich würde keinen Neubau als Atelier haben wollen.
Was passiert, wenn man eine Scheibe Ananas mit Kunstharz übergießt? Fragen wie diese schießen Susi Gelb ständig durch den Kopf. „Ich bin eine Alchemistin“, erklärt sie. Wie in einem Labor hantiert sie mit den Materialien, oft ohne zu wissen, was am Ende dabei rauskommt. Die Kunstharz-Ananas ist nur scheinbar für die Ewigkeit konserviert, überraschend führt der eingeschlossene Fruchtsaft ein fluides Eigenleben. Susi Gelbs Kunst besteht aus diesen Zufällen. „Meine Arbeiten tun gar nicht so, als würden die für immer so bleiben. Sie haben ganz oft einen Moment der Transformation.“
Mit ihren Monolithen aus Stampfbeton oder ihren KI-Videoinstallationen hebt Susi Gelb die Grenzen zwischen Natur und Technologie auf. Damit zeigt sie, wie zerbrechlich Natur ist, mit der sie sich sehr verbunden fühlt. Aufgewachsen auf dem Land in Bayern hat sie sich in ihrer ersten Berliner Wohnung in einer baumlosen Straße sehr unwohl gefühlt. „Jetzt wohne ich in einer Erdgeschosswohnung in der Wiesenburg hier im Kiez – mit eigenem Garten!“ Selbst anzupflanzen, erdet sie. „Ich bin ein ganz krasser Geruchsmensch. In eine Skulptur habe ich mal Heu reingesteckt. Diesen feuchten Taugeruch am Morgen auf einer Wiese einzuatmen, macht mich total glücklich.“
Autorin: Nadine Wojcik / Bilder: Christine Bayer