Alltag in der Pandemie Alleine, aber nicht einsam
Abstand halten und möglichst wenig Kontakt zu anderen – das ist das Gebot der Stunde. Gerade ältere Menschen verbringen ohnehin viel Zeit in den eigenen vier Wänden. Ohne Kontakte entsteht schnell Einsamkeit. Gemeinsam mit der GESOBAU arbeiten Ehrenamtliche und verschiedene Initiativen daran, das zu verhindern.
Märkisches Viertel, Mitte April. Wenn es das Wetter zulässt, sitzt Helga König jeden Tag ein paar Stunden auf ihrem Balkon und freut sich über die sonnigen Frühlingstage. Sie winkt Nachbar*innen zu und blättert durch Bücher, die viel zu lange liegengeblieben sind. Ab und zu kommt ihr Enkel zu Besuch. Dann halten sie einen kleinen Schwatz. Die Oma steht oben auf dem Balkon, „der Junge“, wie Helga König sagt, unten auf dem Gehweg.
Anders geht es gerade nicht. Helga König ist 80 Jahre alt und gehört zur sogenannten Risikogruppe, die in diesen Tagen der Corona-Pandemie besonders vorsichtig sein muss. Seit Ende März hat sie ihre Wohnung kaum noch verlassen. Ihr Küchenboden sei schon bald löchrig, so oft hat sie durchgewischt, erzählt Helga König am Telefon, lacht herzlich und sagt: „Kinder, was sind das für Zeiten!“
Wie Helga König geht es gerade vielen Menschen – nicht nur im Märkischen Viertel, sondern in ganz Berlin und deutschlandweit. Für sie wurde plötzlich die Wohnung zum Mittelpunkt des Alltags. Betroffen sind vor allem diejenigen mit Vorerkrankungen und Ältere, denen nun besonders nachdrücklich geraten wird, sich möglichst viel zu Hause aufzuhalten und Supermärkte weitestgehend zu meiden. Die meisten können ihre Angehörigen nicht sehen. Wie geht es den Menschen mit der verordneten Isolation, und wie kann man sich gegenseitig in Zeiten der Krise stützen, als Familie, Nachbar*in und Freund*in?
Ihren wöchentlichen Einkauf bringe jetzt „ein netter junger Mann“ vorbei, erzählt Helga König. Der stelle die Taschen vor der Tür ab, rufe freundlich „Hallo“ und verabschiede sich dann wieder. Auch wenn es nur ein kurzer Moment ist, sei er wunderbar, sagt sie. Nicht nur die schnelle Hilfe, auch das Gefühl zu haben: Da ist jemand.
Gemanagt wird die Einkaufshilfe von Mitarbeiter*innen eines Projektes des Berliner Senats in Kooperation mit der GESOBAU. „Berlin Entwickelt Neue Nachbarschaften“, kurz BENN, organisiert Nachbarschaftshilfe in verschiedenen Berliner Bezirken – auch im Märkischen Viertel. Hinter BENN steckt hier ein vierköpfiges Team. Dessen Leiter ist Felix Wolf, 40 Jahre alt.
„Durch Corona sind viele unserer Begegnungsprojekte weggefallen“, erzählt Wolf. „Da haben wir uns gefragt: Wie können wir die Menschen erreichen, wie können wir helfen?“ Die Antwort war schnell gefunden: mit einer Einkaufshilfe. Täglich rufen nun diejenigen an, die selbst nicht raus können, und geben durch, was sie brauchen. Wenig später stehen dann die gefüllten Taschen vor ihrer Tür. Die Bezahlung wird kontaktlos erledigt.
Einkaufen gehen Freiwillige wie Lena Linck. Sie ist 42 Jahre alt und Lehrerin an einer Schule in der Nachbarschaft. Seit Anfang April macht Linck nun für andere Besorgungen. „Keine Wasserkästen, nur Kleinigkeiten und Dinge des Alltags.“ Brot, Nudeln oder frisches Obst. „Ich bin gesund, ich habe Zeit. Warum soll ich nicht anderen helfen?“, sagt Linck und erzählt von einem älteren Herrn aus ihrer Nachbarschaft, den sie durch BENN kennengelernt hat. „Der Kontakt ist so nett“, sagt Linck, der werde sicherlich bestehen bleiben. Auch nach der Krise.
Es sind aber nicht nur Dinge des Alltags, die vielen Menschen momentan fehlen. Auch eine Umarmung und ein liebes Wort werden von vielen vermisst. Christina Traxel ist in diesen Wochen viel am Telefon, mit „den Mädels“, wie sie sagt. Die 64-Jährige leitet das Ribbeck-Haus am Senftenberger Ring, mitten im Märkischen Viertel. Wo normalerweise kleine Gruppen zusammensitzen, töpfern und nähen, herrscht nun Stille. Um diese zu vertreiben, ruft Traxel mehrmals wöchentlich bei ihren Besucher*innen an. Viele kennt sie seit mehr als 20 Jahren. „Wir sind hier ja wie eine kleine Familie“, sagt Traxel und verliert vor Rührung ein bisschen die Fassung. Man merkt in diesem Moment, wie sehr ihr die Frauen und Männer am Herzen liegen.
„Es fehlen nicht nur Dinge im Alltag. Auch Umarmungen werden vermisst.“
Helga König, Rentnerin
Die meisten, mit denen sie spricht, seien gut versorgt, sagt Christina Traxel. Manche seien aber auch alleine. „Die freuen sich einfach, wenn mal jemand fragt: Wie geht es dir?“ Was sie neben Sorgen um die Gesundheit am meisten höre, sei die Sehnsucht nach Nähe: „Zusammen lachen oder die Enkel mal knuddeln, so was.“ Was sie macht, wenn die Krise ausgestanden ist, weiß Traxel daher schon genau: Ein riesiges Fest im Herzen des Märkischen Viertels, „mit ganz vielen Umarmungen“.
So wie Christina Traxel verbringt auch Ilona Luxem gerade viele Stunden am Telefon. Seit 34 Jahren arbeitet sie bei der GESOBAU, 17 davon als Sozialarbeiterin. Seit das Coronavirus die Menschen ans Haus bindet, unterstützt sie vor allem bei Problemen im Alltag. „GESOBAU – zu Besuch am Telefon“ heißt die Hotline, die Ende März extra für Mieter*innen des Wohnungsbauunternehmens eingerichtet wurde.
Wer dort anruft, der landet bei Ilona Luxem oder ihrem Kollegen. Heute morgen habe eine Dame angerufen, die eine neue Creme aus der Apotheke braucht, eine andere benötigt Hilfe beim Einkauf, erzählt Luxem. Wegen der Corona-Pandemie arbeitet sie zu Hause, erreichbar ist sie trotzdem. Wenn es sein muss, dann auch rund um die Uhr. Und wenn es schnell gehen muss, dann steigt Luxem auch selbst aufs Fahrrad und radelt zur Apotheke.
Aber Ilona Luxem wird nicht nur angerufen, auch sie kontaktiert Mieter*innen, von denen sie weiß, dass diese alleine sind. Dabei hilft ihr auch der enge Kontakt zu den Hausmeister*innen der GESOBAU: Wer braucht vielleicht Hilfe? Wer kann nicht mehr so gut alleine? „Wir haben hier ein engmaschiges Versorgungsnetz gestrickt“, sagt Luxem und erzählt von gut funktionierender Nachbarschaftshilfe und fürsorgenden Angehörigen. „Wenn die Menschen mir davon berichten, wie gut die Kinder sich nun kümmern, schwingt da ganz viel Stolz mit.“ Auch für sie sei das eine große Freude, sagt Luxem: „Es ist toll zu hören, dass die Menschen in diesen Zeiten so zusammenrücken.“ Das gebe Hoffnung, dass die neuen Verbindungen vielleicht auch danach weiter bestehen.
Nicht nur im Märkischen Viertel finden zurzeit die Menschen zusammen, wenn auch mit Distanz. Im Seniorenhaus der GESOBAU in Weißensee haben sie jetzt sogar eine Hauszeitung gegründet. Ganz nach dem Motto: von Nachbar*in zu*r Nachbar*in. Bisher ist eine Ausgabe erschienen, die zweite ist in Arbeit. Einmal am Tag gibt es „Balkongymnastik“ und gegen 18 Uhr eine „Hunderunde“, bei der Ehrenamtliche mit ihren eigenen Hunden ums Haus laufen, winken und eine Pause machen. Für Leckerlis, die von den Balkonen segeln.
Wenn Bettina Franz-Schulz, Koordinatorin bei den Johannitern, dem Kooperationspartner der Gesobau und verantwortlich für die Betreuung der Bewohner*innen, von den Aktivitäten der Mieter*innen in ihrem Haus berichtet, dann lacht sie viel. „Die Damen und Herren sind hier sehr engagiert.“
120 Mieter*innen leben in dem Haus. Eine von ihnen ist Margret Silaff, 76 Jahre alt und seit Neuestem Autorin der Hauszeitung. In ihrem Artikel beschreibt sie ihren Alltag in Zeiten von Corona und gibt Tipps gegen Langeweile. Hört man ihr zu, wie sie von ihrem Alltag im Ausnahmezustand berichtet, entsteht der Eindruck, dass sie vor der Krise mehr Ruhe hatte als in diesen Tagen. „Die Arbeit lenkt ab“, sagt Silaff und lacht. Normalerweise geht sie jeden Dienstag zur hauseigenen Bastelgruppe. Weil das gerade nicht geht, wird sie selbst kreativ. An diesem Morgen hat sie bereits mehrere Eier aus Pappe gebastelt und angemalt. Auch ihre Nachbar*innen arbeiten an eigenen kleinen Projekten, die der ganzen Hausgemeinschaft zugutekommen. Eine Dame backt Kekse für die Nachbar*innen, eine andere näht Atemmasken aus bunten Stoffresten. Mal sehen, was sich die Bewohner*innen in den nächsten Wochen noch ausdenken. Ideen haben sie genug.
Autorin: Gesa Steeger / Illustrationen: Anton Hallmann/Sepia