Kiezspaziergang Ein Rundgang durch den Brüsseler Kiez

Im Brüsseler Kiez im Wedding setzt sich Renate Straetling für mehr Gemeinschaft ein. Die engagierte Seniorin führt uns herum und zeigt ihre Lieblingsorte zum Lesen, Filmeschauen und Teetrinken.

19. Oktober 2023
Innenaufnahme: Frau serviert älterer Frau in Café türkischen Tee

Wir spazieren mit Renate Straetling durch den Brüsseler Kiez, in dem sie seit 2007 zu Hause ist. 1973 kam sie aus Hessen nach Berlin. Bevor sie in den Wedding zog, lebte Renate Straetling in Lichterfelde, am Rande von Neukölln und später in Charlottenburg. „In den Kiezen dort ging es sehr lebendig zu, das hat mir gefallen“, sagt sie. Im Brüsseler Kiez sei das anders gewesen. Oft habe sie ihre Nachbar*innen tagelang nicht gesehen und auch sonst kaum einen Bekannten auf der Straße getroffen. Renate Straetling wollte das ändern. Sie begann, sich in der Nachbarschaft zu engagieren.

Mit dem Ehrenamt zu mehr Gemeinschaft

Kartenausschnitt mit sechs Stationen, im Mittelpunkt Zeppelinplatz

„Ich wollte die Leute kennenlernen und zusammenführen“, sagt sie. Das ist ihr gelungen. Über die Johannesstift Diakonie, ein großes Gesundheits- und Sozialunternehmen, kam sie vor zehn Jahren zum Projekt „Lebendige Nachbarschaft“, in dem sie seitdem ehrenamtlich mitwirkt. So hat sie zum Beispiel eine erblindete ältere Dame betreut, die nach dem Tod ihres Mannes allein zurechtkommen musste. 2018 war sie mit dabei, als eine Initiative zur Nachhaltigkeit im Kiez aufgebaut wurde. „Wir organisieren Kiezfeste und Tauschmärkte, kümmern uns um nachhaltige Baumpflege und Balkonbepflanzungen.“ Auch Picknicks im Volkspark Rehberge gehören zum Angebot für die Anwohner*innen.

Inzwischen ist die Soziologin selbst im Ruhestand und engagiert sich für die Belange der Senior*innen in ihrem Kiez. „Gegenwärtig geht es vor allem darum, die wenigen vorhandenen Begegnungsstätten für ältere Menschen zu erhalten“, sagt sie. Viele Träger würden demnächst die Arbeit einstellen, weil ihre Mitarbeiter*innen das Rentenalter erreicht hätten. „Wir müssen neue finden“, drängt Renate Straetling.

Mehr Aufmerksamkeit für den Wedding

Seit zwei Jahren arbeitet sie als Journalistin beim „Weddingweiser“ mit, der Onlinezeitung für die Ortsteile Wedding und Gesundbrunnen. Regelmäßig erscheint ihre Kolumne Ü60, in der sie über große Themen wie Altersarmut schreibt und Senior*innen porträtiert, die im Stadtteil ehrenamtlich arbeiten. Im April erhielt der „Weddingweiser“ die Auszeichnung „Goldene Blogger“ als bester deutscher Lokal-Blog. Als 2011 das letzte ihrer drei Kinder auszog, machte sich Renate Straetling auch einen Namen als Autorin von Erzählungen und Gedichten. Mit einer Science-Fiction-Geschichte möchte sie Kinder für die Zukunft begeistern.

1. CAFÉ „OLD STYLE“

Innenaufnahme: Hand einer Person, die Tee in typisch türkische Teegläser einschenkt

Renate Straetling kommt gerne auf ein Glas Tee im Café „Old Style“ vorbei. So gut wie hier gelingt er ihr zu Hause selten.

Das Café ist gemütlich eingerichtet: rote Samtsessel im Stil der Zwanzigerjahre, auf jedem Tisch ein kleiner Blumenstrauß. Auffällig ist die Deckenbeleuchtung. Viele Lampen sind zu einer riesigen Ellipse angeordnet, die die Mitte des Raumes dominiert. Inhaberin Özlem Özmen-Eren betreibt das „Old Style“ seit 15 Jahren. „Mit meinem Café wollte ich gleichzeitig ein soziales Projekt ins Leben rufen“, sagt sie und erzählt, dass sie fast ausschließlich alleinerziehende Frauen mit Migrationshintergrund beschäftigt. Renate Straetling mag vor allem den Tee, der hier angeboten wird. „Der schmeckt einfach so gut, wie man ihn zu Hause nicht hinbekommt“, sagt sie. Zum Tee gibt es eine große Auswahl an türkischem Gebäck. Den ganzen Tag über kann man außerdem Frühstück bestellen.

Café „Old Style“
Müllerstraße 147, 13353 Berlin

www.cafe-old-style.de

2. RATHAUSPLATZ

Vom „Old Style“ gehen wir zum angrenzenden Rathausplatz. Dort steht eine große runde Bank aus Beton, in deren Mitte drei gewaltige Pappeln stehen. „Auf dieser Bank sitzen die unterschiedlichsten Menschen“, sagt Renate Straetling. Leute, die aus dem nahe gelegenen Jobcenter oder vom Einkaufen kommen, Handwerker*innen, Mütter mit kleinen Kindern. Sie selbst würde auch öfter hier sitzen, sich ausruhen, vorbeigehende Menschen beobachten, dem Rauschen der Pappeln zuhören. Die ersten Pappeln hat 1924 Adolf Rautmann gepflanzt, der sein Geld als Zirkuskünstler und Schauspieler verdiente. Von 1906 bis 1907 betrieb er an der Müllerstraße einen Rummelplatz. Mit seinen Zauberkünsten erfreute Rautmann vor allem die Kinder des Viertels, die ihn liebevoll „Onkel Pelle“ nannten. 1989 mussten seine Pappeln leider gefällt werden, weil sie an einer Pilzerkrankung litten. Zwei Jahre später wurden aber drei neue gepflanzt, die inzwischen zu stattlichen Bäumen herangewachsen sind.

Außenaufnahme: Drei Bäume in einem Rondell, drumherum Sitzgelegenheiten

Bitte Platz nehmen: Am Rathausplatz im Wedding kommen Kiez-Bewohner*innen zusammen

3. SCHILLER-BIBLIOTHEK

Unweit der runden Bank befindet sich seit Juli 2015 die neue Schiller-Bibliothek. Neben Büchern und Medien für alle Altersgruppen steht Jugendlichen und jungen Erwachsenen dort eine komplette Medienetage zur Verfügung. Auf insgesamt 1800 Quadratmetern gibt es viele Computerarbeitsplätze, einen Gruppenarbeits- und einen Veranstaltungsraum und auf jeder Etage gemütliche Leseecken. Renate Straetlings Lieblingsplatz ist ein kugelförmiger Sessel. „Hier sitze ich oft, lese oder schaue mir Magazine an“, sagt sie. Beliebt ist auch der öffentliche Lesegarten vor der Bibliothek. Bänke laden zum Schmökern unter freiem Himmel ein. Leseleuchten aus Beton wirken wie Skulpturen und leuchten abends pastellfarben. Sie lassen den Platz sehr modern, aber auch ein bisschen geheimnisvoll erscheinen.

Schiller-Bibliothek, Müllerstraße 149, 13353 Berlin

Innenaufnahme: Ältere Frau in einem runden orangefarbenen Sessel liest Zeitung

Renate Straetling entspannt gerne in einer der gemütlichen Leseecken in der Schiller-Bibliothek

Renate Straetling will uns nun zu einer Skulptur führen, die ihrer Meinung nach viel zu wenig beachtet wird. Wir gehen quer über den Zeppelinplatz Richtung Brüsseler Straße. Plötzlich fängt es an zu regnen. Wir flüchten in die nahe gelegene Eckkneipe „Brüsseler Tor“ – eine urige Berliner Kiezkneipe, wie es sie kaum noch gibt. Innen sieht es aus, als wäre die Zeit stehen geblieben. Die Wände sind holzgetäfelt, „und zwar genau so wie vor Jahrzehnten, als die Kneipe von Brauereibesitzern eingerichtet wurde“, sagt Renate Straetling. Wir setzen uns in eine gemütliche Ecke und bestellen Radler. Die Bedienung ist ein „Berliner Original“ und hat ein großes Herz für die Gäste. Abends ist hier besonders viel los, zumal es auch ein extra Billardzimmer gibt.

Brüsseler Straße 21, 13353 Berlin 
Öffnungszeiten: Mo–Sa 13 bis 23 Uhr, So 11 bis 22.30 Uhr

Innenaufnahme: Zwei ältere Frauen prosten sich in rustikaler Kneipe mit Bier zu

Urige Kiezkneipen sind vom Aussterben bedroht. Im Wedding gibt es mit der „Brüsseler Tor“-Kneipe noch ein echtes Berliner Original

5. SKULPTUR „BROKEN RIFLE“

Außenaufnahme: Roboterähnliche Skulptur zerbricht Gewehr

Das Kunstwerk „Broken Rifle“ befindet sich vor dem Anti-Kriegs-Museum und soll den Antikriegsgedanken widerspiegeln

Als die Sonne wieder herauskommt, zeigt uns Renate Straetling die Skulptur, die sich am Ende der Ernst-Friedrich-Promenade schräg gegenüber der Kneipe befindet. „Broken Rifle“ heißt das Kunstwerk. Es ist ein roboterähnliches Wesen, das über seinem Kopf ein Gewehr zerbricht. Geschaffen hat es der italienische Bildhauer Angelo Monitillo. Wie es dazu kam, erzählt uns Tommy Spree, der das Anti-Kriegs-Museum an der Brüsseler Straße 21 leitet. Er hat es 1982 neu eröffnet und damit an das Anliegen seines Großvaters Ernst Friedrich angeknüpft, der 1925 das weltweit erste Museum dieser Art gründete. „Als im Jahr 2000 die Promenade nach meinem Großvater benannt worden ist, kam ich auf die Idee, eine Skulptur vor unser Museum zu stellen, die den Antikriegsgedanken aufnimmt“, erklärt Tommy Spree. Am 1. Oktober 2005 wurde „Broken Rifle“ enthüllt.

Skulptur „Broken Rifle“
Ernst-Friedrich-Promenade

13353 Berlin

6. CINEPLEX ALHAMBRA

Innenaufnahme: Ältere Frau steigt Treppe hinauf

Für den besten Blick über ihren Kiez geht Renate Straetling gerne in die erste Etage des Kino Alhambra. Tipp: Am Mittwoch lassen sich die Filme auch mit frischen Blechkuchen genießen

Unser Streifzug durch den Brüsseler Kiez endet im Kino Alhambra an der Seestraße 94. Renate Straetling verabredet sich hier gern zum „Film Café“, einer Reihe, die jeden Mittwoch stattfindet. Bevor es um 15 Uhr losgeht, kann man für einen geringen Aufpreis Blechkuchen und Kaffee bestellen. „Eine gute Gelegenheit, sich mit Freund*innen zu treffen und noch ein bisschen zu plaudern, bevor man sich gemeinsam einen guten Film ansieht“, sagt sie. Auch Angebote wie „Best of Cinema“ oder Familienpreviews kommen bei den Weddinger*innen gut an. Renate Straetling ist froh darüber. So hätte das Kino am Standort erhalten bleiben können, sagt sie. Schließlich sei das Alhambra einer der wenigen kulturellen Treffpunkte im Kiez. Dann führt sie uns noch in die 1. Etage. „Von hier oben hat man einen wunderbaren Blick über unseren Kiez und das Gefühl, unmittelbar über der großen Kreuzung Müllerstraße, Ecke Seestraße zu schweben“, sagt sie.

Cineplex Alhambra
Seestraße 94
13353 Berlin

www.cineplex.de


Text: Regina Köhler / Fotos: Verena Brüning


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