Kiezspaziergang Das Tor zum Norden
Industriehallen, eine Telefonzelle aus London und Wasserbüffel am Fließ: Auf einer Fahrradtour durch Borsigwalde und Tegel zeigte uns Heiner von Marschall vom Verkehrsclub Deutschland seinen Kiez.
Das grüne Poloshirt ist sein Erkennungszeichen. „Mobilität für Menschen.“ steht auf dem Rücken von Heiner von Marschall, das Motto des Verkehrsclubs Deutschland (VCD). Der VCD setzt sich für eine Mobilitätswende ein: Statt mit dem eigenen Pkw sollten mehr Menschen ihre Wege mit dem Fahrrad, zu Fuß oder mit dem öffentlichen Personennahverkehr zurücklegen. Als Landesvorsitzender geht Heiner von Marschall mit gutem Beispiel voran. Innerhalb des Bezirks ist sein dunkelblaues Herrenrad für ihn das wichtigste Fortbewegungsmittel. Damit holt er uns am S-Bahnhof Eichborndamm ab, um uns seinen Wohnkiez Borsigwalde und den grünen Norden Berlins zu zeigen.
Roter Backstein und Klinker
„Borsigwalde ließ Firmengründer August Borsig zwischen 1894 und 1905 für seine Arbeiter erbauen“, erklärt Heiner von Marschall. Borsig leitete ein Maschinenbauunternehmen. Im Gegensatz zu den Gründerzeitbauten im Berliner Zentrum mit ihren dunklen Hinterhöfen, sollten die Arbeiter*innen hier in hellen, verhältnismäßig geräumigen Wohnungen leben, mit Gärten, um Gemüse anzupflanzen. In der Räuschstraße sind noch viele dieser Häuser erhalten. Fast erinnern die schmalen Backsteinbauten an Londoner oder New Yorker Stadthäuser. Der Charme dieser Straße war es, der Heiner von Marschall nach Borsigwalde ziehen ließ.
Der Freiburger kam erstmals fürs Studium am Osteuropa-Institut der Freien Universität nach Berlin. Mehrere Jahre arbeitete er dann bei internationalen Missionen im ehemaligen Jugoslawien mit und kehrte danach mit seiner Familie nach Berlin zurück. Als Elternsprecher setzte er sich für sichere Schulwege ein und engagierte sich auch politisch für Verkehrsfragen.
Kerzen aus Borsigwalde
An der Ecke Räusch- und Ernststraße zeigt er uns die 2005 gegründete Kerzenmanufaktur „Lichterglanz“. „Euer Laden müsste eigentlich in Friedrichshain sein“, hören Susanne Nagies und Gerald Knüppel oft. „Aber das wäre für uns kaum bezahlbar“, meint Susanne Nagies, die im selben Haus wohnt. Sie fertigt alle Kerzen in Handarbeit an, darunter auch Aufträge für Taufen oder Hochzeiten. In der Werkstatt empfängt sie Kindergruppen zum Kerzenziehen. Danach gibt es Pizza und Getränke im Vorgarten. Gerald Knüppel ist in Borsigwalde geboren. „Ich kann mir keinen besseren Ort in Berlin vorstellen“, schwärmt er. „Wir leben hier in der Stadt und trotzdem so nah am Wald.“
Das geht auch Heiner von Marschall so. Bevor er uns die grüne Seite des Berliner Nordens zeigt, trinken wir noch ein erfrischendes Mango-Lassi in dem indischen Restaurant „Atma“ gegenüber der Kerzenmanufaktur. Über die Ernststraße, die kleine Shoppingmeile von Borsigwalde, erreichen wir die Schneckenbrücke mit ihren spiralförmigen Aufgängen. Sie verbindet Borsigwalde mit Tegel, und hier heißt es: absteigen und schieben, denn Radfahren ist auf der Überführung über die Gleise der S-Bahnlinie 25 und die Autobahn 111 nicht gestattet. „Die Brücke ist Teil der Berliner Hauptrouten für den Radverkehr, trotzdem besteht hier ein Radfahrverbot. Viele Anwohner*innen wünschen sich, dass die Brücke freigegeben wird“, erklärt Heiner von Marschall.
Kerzenmanufaktur Lichterglanz
Räuschstraße 17 A, 13509 Berlin
geöffnet: Di bis Fr 14–18 Uhr,
Sa 10–14Uhr
Tel. 030 4377 9830
www.lichterglanz-die-kerzenmanufaktur.de
Zeugnisse alter Industriekultur
Wir erreichen das alte Borsig-Gelände am U-Bahnhof Borsigwerke. Hier wurden einst Dampfmaschinen und Lokomotiven hergestellt. Eine stilisierte Lok neben dem imposanten Borsigtor erinnert daran. Wir durchqueren das Tor und steuern auf den Borsigturm zu. „Das einstige Verwaltungsgebäude wurde 1922 gebaut und gilt mit seinen zwölf Stockwerken als erstes Hochhaus Berlins“, erklärt Heiner von Marschall. Daneben befindet sich der Eingang zu Tegels größter Shoppingmall, den Hallen am Borsigturm.
Entlang historischer Industriehallen, die seit den 90er-Jahren von Unternehmen wie dem Büromaterialhersteller Herlitz genutzt werden, erreichen wir den Kanonenplatz. Die gusseisernen Kanonen aus Zeiten der britischen Küstenverteidigungen im 18. Jahrhundert sind wie die rote Telefonzelle ein Geschenk von Reinickendorfs Partnergemeinde Greenwich in London. Am Tegeler See mit seinen schaukelnden Segelbooten und dem Ausflugsdampfer „Moby Dick“ kommt Urlaubsstimmung auf. Menschen genießen auf den hölzernen Liegen den sonnigen Nachmittag. Über die Greenwichpromenade gelangen wir nach Alt-Tegel. Hier reiht sich ein Café an das nächste. Historische Straßenschilder und -laternen erinnern an längst vergangene Tage.
Wir kreuzen die befahrene Berliner Straße. Hinter der Baustelle für die neue Fußgängerzone Gorkistraße/Tegel-Quartier wird es ruhiger. Über die Ziekowstraße und den Titusweg erreichen wir das Tegeler Fließ. Kaum zu glauben, dass sich diese wilde Landschaft in Berlin befindet. Stege führen über Wasserläufe und Tümpel. Im Ortsteil Hermsdorf entdecken wir eine Herde Wasserbüffel. Als „ökologische Rasenmäher“ beschreibt sie Heiner von Marschall treffend, denn die Tiere wurden zur Pflege der Nasswiesen angesiedelt.
Schweren Herzens nehmen wir Abschied von diesem idyllischen Anblick. Heiner von Marschall begleitet uns zum nahe gelegenen S-Bahnhof Waidmannslust. Nach etwa zehn Kilometern auf dem Rad geht es nun mit der S1 zurück in die Innenstadt.
Text: Judith Jenner / Fotos: Verena Brüning